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Anmerkungen zur CD "Lilium"

"Die Aufführungspraxis der Gesänge Hildegards ist wesentlich auf das Wort ausgerichtet. Hildegard komponiert, indem sie den lichten Worten eine Klang-Farbe verleiht. Sie gliedert und deutet die Texte, die sie schreibt, mit Hilfe der Musik und sie verbindet auf subtile Weise einzelne Textteile so miteinander, dass ein mehrschichtiges und äußerst farbenreiches Klangmosaik entsteht, dessen spiritueller Reichtum sich langsam immer mehr erschließt. Wer diese Musik aufführt muss sich dem Wagnis stellen, den Text so zu vermitteln, wie man einen Text vorlesen oder singen würde, den man sehr gut kennt. Erst diese Vertrautheit mit dem Text verleiht die Freiheit, die melodische Struktur zu gestalten.

Stephanie Haas realisiert dieses den Gesängen Hildegards zutiefst gerecht werdende Ausgehen von einem verinnerlichten Text in idealer Weise. In dieser Interpretation fallen die musikalischen Schwerpunkte auf natürliche Weise mit den Wortakzenten zusammen, so dass deutlich wird, wo Hildegard durch die Gestaltung der melodischen Linie thematische Schwerpunkte ihrer Texte betont wissen will und wo sie einzelne Textaussagen musikalisch so miteinander verknüpft, dass ein neuer Sinn entsteht, ein Sinn, der die überkommenen theologischen Modelle in einem neuen Licht erscheinen lässt, sie kontrastiert und lebendig macht.

Eine werkgerechte Interpretation der Gesänge Hildegards macht es erforderlich, dass man sich dem Inhalt dieser Gesänge stellt und nachvollziehbar macht, dass sie als klingende Textaussage ein höchst lebendiges Eigenleben haben, dessen Träger Melodie und Text in untrennbarer Verbundenheit sind. Die Regel Benedikts, nach der Hildegard lebte, besagt, dass im gesungenen Gebet unser Geist mit unserer Stimme in Einklang sein soll, eine Übereinstimmung, von der Benedikt möchte, dass sie sich im Herzen des Menschen vollziehe. Stephanie Haas macht in dieser Einspielung eine klanggewordene Realisation dieser Herangehensweise hörbar.

Die Instrumentierung

Hildegards Gesänge sind in ihrem Kloster mit instrumentaler Begleitung aufgeführt worden, wie ein Brief ihres letzten Sekretärs Guibert von Gembloux bezeugt. Will man dies heute nachvollziehen, so ist zu fragen, an welchem Stilideal man sich dabei orientiert.

Stephanie und Christoph Haas haben sich für ein Konzept entschieden, das die Gesänge in einen deutenden instrumentalen Klangraum stellt: Langhalslaute, Rahmentrommeln und Cymbals zeichnen sich - ebenso wie die monodischen Melodien des mittelalterlichen Gesang - aus durch Grundton-Bezogenheit, Reichtum an Klangfarben und Obertönen. Dieses Konzept übersteigt die übliche historisierende Praxis. Es umrahmt nicht, es ist kein schmückender Zusatz, sondern substantiell.

Christoph Haas gestaltet seinen instrumentalen Part analog zur kompositorischen Praxis Hildegard von Bingens, indem er auch durch die Wahl der Rhythmen mittelalterliche Weltdeutung zum Klingen bringt. So leuchtet in Aurora ein metallischer Klangraum, die an den religionsübergreifenden kultischen Gebrauch von Zimbeln erinnern. Das 12schlägige Motiv in der Gliederung 3-3-2-2-2 spiegelt als vollkommener Rhythmus die Harmonie von Dualität (zahlensymbolisch in der 2 abgebildet) und göttlicher Kraft und Vollkommenheit (zahlensymbolisch in der 3 abgebildet), wieder. Und auch die Wahl der Metall-Instrumente ist kein Zufall. Sie ist vielmehr bezogen auf die Glut der leuchtenden Sonne (Aurora), die Erde zu Metall schmilzt. Das Instrumentarium von Laetitia greift auf eines der ältesten Musikinstrumente zurück: Rahmentrommeln werden traditionell von Frauen gespielt. "Da nahm Myriam eine Trommel in ihre Hand, und alle Frauen folgten ihr nach mit Trommeln im Reigen" (2. Mose 15). Perdito arbeitet mit der Symbolzahl 7, deren Deutungsmöglichkeiten beinahe unendlich sind. Die 7 ist die vollkommene Zahl, die aus der 3 (Himmel) und der 4 (Erde) zusammengesetzt ist. Sie steht für die Möglichkeiten menschlicher Entwicklung, die 7 Werke der Barmherzigkeit ebenso wie die 7 Todsünden. Hier ist sie hinweisgebend auf den gefallenen Engel realisiert.

Die reiche Symbolik der den Rhythmen zugrundeliegenden Zahlen und der Instrumente ließe sich vervielfachen. Das Ergebnis ist eine Art "Moyen Age imaginaire", das uns einen direkten Zugang zu dieser fernnahen Welt zu vermitteln vermag."

Dr. Barbara Stühlmeyer